Schwarzer Tag für die Grundrechte, Freifahrtschein für die Regierenden

MAINZ. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesnotbremse im Frühjahr 2021 zurückgewiesen: Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen waren, so die Karlsruher Richter, verfassungsgemäß. Der heutige Fraktionsvorsitzende Joachim Streit sowie der Parlamentarische Geschäftsführer und rechtspolitische Sprecher Stephan Wefelscheid hatten am 22. April – und damit als erste überhaupt – Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesnotbremse eingelegt.

Joachim Streit zum Urteil:
Ich bin entsetzt über die Entscheidung. Nachdem mir das Verwaltungsgericht Trier Recht gegeben hat, hat es sich das Bundesverfassungsgericht einfach gemacht. Sinngemäß heißt das Urteil: Da man in einzelnen Städten Ausgangssperren nicht hinreichend kontrollieren kann, darf der Gesetzgeber über ganz Deutschland einen Bann verhängen – da dieser einfacher zu überwachen ist.
Gleichzeitig erkennt man die fehlende Verhältnismäßigkeit in dem Urteil: Die Bundesnotbremse griff bereits bei einem Inzidenzwert von 100. Das heißt: Ich durfte damals alleine mit meiner Frau abends nicht mehr spazieren gehen. Heute haben wir Inzidenzwerte, die viermal so hoch sind und in Köln feiern 50.000 Menschen in einem Stadion – und dies ist nicht verboten.
Das Bundesverfassungsgericht hat hier einen vollkommen neuen Weg beschritten. Es fragt nur noch danach, ob der Gesetzgeber an die Maßnahmen, die er ausspricht, geglaubt hat. Damit entmachtet das Bundesverfassungsgericht sich praktisch selbst, indem es die Überprüfung im Einzelfall nicht mehr vornimmt.
Dazu muss man nach dem Zweck und den Zielen fragen, ob es ein milderes Mittel gibt. Ein milderes Mittel als Ausgangssperren wäre eine allgemeine Maskenpflicht im Freien mit FFP2.
Mit den Zielen des Bundesverfassungsgerichts stimme ich überein: Schutz des Einzelnen und Stabilität des Gesundheitssystems.
Hätte ich das als Landrat so pauschaliert gemacht wie in dem jetzigen Urteil, hätte ich in allen Angelegenheiten vor Gericht verloren.

Stephan Wefelscheid zum Urteil:
Positiv ist, dass nun mehr Rechtssicherheit besteht. Wenngleich ich mir eine frühere Entscheidung gewünscht hätte. Vor dem Hintergrund der Verwaltungsrechtsprechung zur Ausgangsbeschränkung habe ich mit dem Urteil so nicht gerechnet, haben doch die Verwaltungsgerichte – wie zuletzt das in Trier – immer betont, wie wichtig doch die Einzelfallprüfung vor Ort wäre.
Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht sozusagen ein Paradigmenwechsel eingeleitet und dem Bundesgesetzgeber weitreichende Einschätzungskompetenzen zugestanden. Der Bundesgesetzgeber muss jetzt im Rahmen seiner Gesetzgebung nur noch darauf achten, ob er auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse handelt und eben die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in seinen Abwägungsprozess einbezieht. Es kommt allerdings nicht mehr darauf an, ob im Einzelfall vor Ort die Rechtsfolge auch zwingend zweckmäßig und logisch ist. Dies widerspricht bei allem gebotenen Respekt für das Bundesverfassungsgericht meinem Verständnis von Freiheit. Ich hätte mir hier eine Rechtsprechung erhofft, die auch die Auswirkungen auf das Individuum im Einzelfall stärker berücksichtigt.

Schwarzer Tag für die Grundrechte, Freifahrtschein für die Regierenden II

  1. Karlsruhe wägt nicht ab. Nur an wenigen Stellen der Entscheidung befasst sich das Gericht mit der Schwere der Grundrechtseingriffe. Weite Teile der Entscheidung lesen sich wie eine Rechtfertigung der Regierungspolitik.
  2. Karlsruhe legt das Grundgesetz gegen seinen Wortlaut aus. Das Gericht gesteht zwar zu, dass das Grundgesetz Freiheitsbeschränkungen nur aufgrund einer Einzelfallentscheidung und nicht flächendeckend erlaubt („aufgrund eines Gesetzes“), setzt sich jedoch über den Wortlaut des Grundgesetzes „teleologisch“ (aus Gründen des Sinns und Zwecks) hinweg und gestattet flächendeckende Ausgangssperren. Dabei übersieht Karlsruhe die historische Erfahrung, die 1949 dazu führte, derartige Ausgangssperren zu verbieten.
  3. Karlsruhe setzt keine „roten Linien“. Es wird aus der gesamten Entscheidung nicht erkennbar, wie weit denn der Gesetzgeber bei der Corona-Politik gehen darf. Ein Freifahrtschein für die Regierenden. Karlsruhe versagt.
  4. Karlsruhe stützt sich bei seiner Entscheidung auf dieselben Experten, die im Frühling 2021 die Bundesregierung beraten haben.
  5. Karlsruhe beschränkt sich bei seiner Argumentation auf eine Plausibilitätsprüfung. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird damit zu einem bloßen Willkürverbot. Dies schwächt den Grundrechtsschutz dramatisch.
  6. Karlsruhe stellt sich vollständig auf die Seite der Regierenden und unternimmt nichts, um Kritiker zu überzeugen. Statt Brücken zu bauen, trägt Karlsruhe – gewiss ungewollt – zur Spaltung der Gesellschaft bei, schwächt sich selbst und fügt dem Ansehen und der Akzeptanz des Gerichts schweren Schaden zu.

Die Pressekonferenz im Videostream gibt’s auf unsere Facebook-Seite: https://fb.watch/9BX3XFUbme/

Foto (v. links): Der Parlamentarische Geschäftsführer und rechtspolitische Sprecher Stephan Wefelscheid, Fraktionsvorsitzender Joachim Streit und der Prozessbevollmächtigte Prof. Niko Härting (im Bildschirm rechts oben) äußern sich in der Pressekonferenz zum Urteil. Rechts Pressesprecher Ralf Helfenstein.

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